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Warum Mitgefühl heute wichtiger ist denn je

Als ich neulich in einem Supermarkt in der Nähe meines Wohnorts einkaufen ging, wurde ich Zeugin der folgenden Szene: Ein etwas älterer Herr (ohne Maske) stand einer Frau (mit Maske) gegenüber und brüllte sie lauthals an. „Was wollen Sie eigentlich, Sie dumme S…, ich bin doppelt geimpft! Was soll ich denn noch tun, damit Sie zufrieden sind?“

Diese kurze Szene hat mich sehr beschäftigt und traurig gemacht. Warum nur, gehen wir so miteinander um? Wo bleibt die Würde, der Respekt vor unseren Mitmenschen? Was bringt uns dazu derart die Beherrschung zu verlieren? Und was würde geschehen, hätten wir mehr Mitgefühl?

Wie ich aus meinem Bekanntenkreis weiss, sind solche Szenen leider keine Einzelfälle. Wir beobachten sie, sie beschäftigen uns und manchmal wecken sie in uns Aggressionen, Wut und Trauer. Vielleicht nerven wir uns selber über unsere Mitmenschen, halten unsere Meinung und Einstellung für die Richtige und können absolut nicht verstehen, wie Menschen anders entscheiden oder denken können als wir.

Ich glaube, dass wir mit einer solchen Haltung nicht weiterkommen werden. Sie ist nicht hilfreich und sie zieht uns runter. Sie erschwert das Miteinander und führt im schlimmsten Fall zu einer Spaltung in der Familie, im Freundeskreis und der Gesellschaft.

Ich bin überzeugt, dass es für die aktuellen Herausforderungen in unserem sozialen Umfeld, bei der Arbeit oder in der Freizeit unter anderem Mitgefühl braucht. Denn wer Mitgefühl empfindet, kann besser mit den eigenen und den fremden Gefühlen umgehen und diese Gefühle und die dazugehörenden Situationen deuten und verstehen. Somit sind wir offener, toleranter und leiden selber weniger unter der Situation. Es braucht also Mitgefühl für die anderen und die Fähigkeit uns und unser Verhalten und Denken reflektieren zu können.

Weil mich dieses Thema sehr beschäftigt, habe ich diesen Artikel geschrieben. Darin findest du

  • die Definition von Mitgefühl und Empathie
  • Wie mir das Mitgefühl hilft, meine Energie nicht zu verschwenden
  • die Bedeutung des Mitgefühls in der Gesellschaft
  • Schattenseite von Mitgefühl
  • Tipps zur Steigerung deines Mitgefühls

 

Ein Definitionsversuch

Mitgefühl wird oft mit Empathie, Einfühlungsvermögen und Sensibilität gleichgesetzt. Der Duden definiert Mitgefühl als Anteilnahme am Leid, an der Not oder Ähnlichem anderer. Empathie wird als Bereitschaft und Fähigkeit sich in die Einstellung anderer Menschen einfühlen zu können beschrieben. Für mich sind beide Definitionen nicht ganz vollständig.

Mitgefühl besteht aus den Wörtern „mit“ und „Gefühl“. Man fühlt also mit jemandem mit, der eine Emotion äussert. Für mich ist Empathie die Fähigkeit die Emotionen einer anderen Person nachzuvollziehen und sich in deren Lage oder Gefühlswelt hineinversetzen zu können. Das Mitgefühl ist dann die entsprechende Handlung oder eben das Gefühl daraus.

 

Wie mir Mitgefühl hilft meine Energie nicht zu verschwenden

Gehen wir zurück zum Beispiel der Szenerie im Supermarkt. Da ich nur einen kleinen Ausschnitt der gesamten Situation mitbekommen habe, weiss ich natürlich nicht, was die Frau dem Herrn – nennen wir ihn Herr Mustermann – gesagt und wie sie es ihm mitgeteilt hat. Ich habe mich auch nicht eingemischt und nachgefragt, ich kann also nur mutmassen. Wagen wir daher mal ein Gedankenexperiment: Ich gehe davon aus, dass die Frau Herrn Mustermann darauf aufmerksam gemacht hat, dass im gesamten Supermarkt eine Maskenpflicht gilt. Dieser fühlte sich ertappt und reagierte mit den bereits beschriebenen verbalen, lauten Äusserungen. Auf mich wirkte diese Reaktion respektlos und harsch der Frau gegenüber. In Japan würde man sagen, dass eine solche Reaktion zum Verlust des Gesichts führt. Herr Mustermann hätte dort also sein Gesicht verloren.

Die Beobachtung dieses Verhaltens führte bei mir zuerst zu völligem Unverständnis, Wut und dann zu einer gewissen Traurigkeit. Diese Emotionen belasten mich und sie erschweren mir den respektvollen Umgang mit meinen Mitmenschen. Ich will diese unnötige Last nicht, ich will mich nicht über andere Menschen ärgern, weil das nur unnötig meine Energie verbraucht. Was also habe ich getan?

Ich setzte meine Empathie, mein Mitgefühl gegenüber Herr Mustermann ein, um die Situation zu analysieren. Ich wollte versuchen zu verstehen, was hinter diesem respektlosen Verhalten steckt. In meinem Gedankenexperiment kam ich dann zu folgenden Resultaten:

  1. Es könnte sein, dass  Herr Mustermann Angst hat. Angst, davor sich selber mit Sars Covid-2 anzustecken und vielleicht sogar daran zu sterben. Angst führt bekanntenermassen zu drei möglichen Reaktionen: Todstellen, Flucht oder Angriff. Die Reaktion des Mannes wäre hier wohl der Angriff.
  2. Aus seiner Sicht hat er alles in seiner Macht Mögliche getan, damit er schnell seine „Freiheit“ zurückerhält (er hat sich geimpft). Jetzt muss er feststellen, dass er nicht wie erhofft, die Maske ablegen darf, sondern die Maskenpflicht und weitere einschränkende Massnahmen nach wie vor gelten. Das führt bei ihm zu einer gewissen Ernüchterung. Die Hoffnung, dass wir bald zur gewohnten Normalität zurückgehen könnten schrumpft.

Ich könnte weiterfantasieren, doch bereits die eben beschriebenen Annahmen helfen mir dabei, eine gewisse Toleranz und Verständnis für das Verhalten von Herr Mustermann zu entwickeln. Diese Toleranz hat nichts damit zu tun, dass ich sein Verhalten gutheissen würde, es hilft mir lediglich dabei, mich nicht mehr so darüber aufzuregen und mich selber wieder besser zu fühlen, weil ich eben seine Gründe für das Verhalten verstehen kann.

Die Analyse der Situation zeigt mir noch einen weiteren Aspekt über mich auf: ich bewertete das Verhalten von Herrn Mustermann als respektlos, was mich gewissenermassen wütend machte. So lerne ich daraus, dass mir der Respekt gegenüber anderen Lebewesen sehr wichtig ist. (Respekt ist einer meiner wichtigsten Grundwerte.)

 

Die Bedeutung von Mitgefühl in der Gesellschaft – oder was wäre geschehen wenn Herr Mustermann selber mehr Mitgefühl gehabt hätte?

Herr Mustermann hat sich mit seiner Aktion bestimmt keinen Gefallen getan und ich weiss auch nicht, wie die Frau darauf geantwortet hat. Möglicherweise ist sie ebenfalls laut geworden, oder sie hat sich umgedreht und ist gegangen. In beiden Fällen wäre dieses Gespräch aber wenig konstruktiv und keiner von beiden wäre persönlich daran gewachsen.

Mit etwas mehr Mitgefühl gegenüber der Frau, wäre Herr Mustermann vielleicht zu folgendem Schluss gekommen:

  1. diese Frau hat Angst sich anzustecken und vielleicht daran zu sterben
  2. sie ist fürsorglich und möchte, dass sich alle an die Vorgaben halten, damit wir uns gegenseitig schützen
  3. der Frau ist Recht und Ordnung wichtig, es gibt keine Ausnahmen. Vielleicht hätte sie mich ja auch einfach fragen können, ob ich eine Maskendispens besitze.
  4. Hätte er sich diese Gedanken kurz gemacht oder wäre er davon ausgegangen, dass es die Frau einfach nicht besser weiss, hätte er vielleicht mit einer etwas ruhigeren Stimme geantwortet und ihr erklärt, warum er seine Maske nicht trägt. Dies wiederum hätte der Frau ermöglicht ihr Mitgefühl ihm gegenüber zu entwickeln. Wie sie allerdings reagiert hätte, bleibt offen.

Dieses Beispiel soll auch nur aufzeigen, wie wir mit Mitgefühl, Empathie und Verständnis anderen Menschen gegenüber einen toleranteren und offeneren Umgang miteinander pflegen könnten. Würden wir unser Verhalten und unsere Gefühle selber öfters reflektieren, lernten wir uns besser kennen und verstehen. Wir entwickelten ein besseres Selbstbewusstsein und gelangen somit auch zu mehr Selbstvertrauen.

 

Schattenseiten von Mitgefühl

Wie alles im Leben hat auch das Mitgefühl eine zweite Seite der Medaille. Haben wir nämlich zu viel Mitgefühl, drohen wir uns selber zu verlieren. Wir geben unsere Bedürfnisse dann ganz für andere auf und nehmen uns selber nicht mehr ernst.

Menschen mit zu viel Mitgefühl werden oft auch ausgenutzt. Ein gutes Beispiel dafür kommt aus dem Arbeitsalltag. Das Nicht-Nein-Sagen-Können gehört ein stückweit dazu. Es fällt uns sehr schwer einer Arbeitskollegin oder einem Arbeitskollegen nein zu sagen, wenn wir wissen und fühlen, dass der Auftrag, um den sie oder er einem bittet, für andere sehr wichtig ist.

Dann sind wir plötzlich gewillt den Auftrag kurz vor oder sogar noch nach Feierabend auszuführen, auch wenn es für uns bedeutet, dass wir nicht mehr ins Training oder zu spät zur Verabredung oder der Familie kommen. Ein-, zweimal spricht ja auch nichts dagegen einen Zusatzauftrag noch schnell anzunehmen, wird das aber zur Normalität, kann das zu Frust und Resignation führen.

Nehmen wir nochmals unser Beispiel vom Supermarkt. Gehen wir davon aus, dass die Frau sich einfach umgedreht hat und gegangen ist. Sie hätte sich dann über das Verhalten Herrn Mustermann aufgeregt oder sich vielleicht gekränkt gefühlt. Gehen wir weiter davon aus, dass sie zu viel Mitgefühl hätte, dann würde sie dieses Verhalten einfach tolerieren und sich sagen, dass man das halt mit ihr so machen darf. Sie würde sich selber verleugnen und sich selber nicht ernst nehmen. Wird dieses Verhalten zur Normalität führt das zur kompletten Selbstaufgabe. Auf die Bedeutung dieser gehe ich in diesem Artikel nicht näher ein.

 

Tipps zur Steigerung deines Mitgefühls

Ich habe schon oft gehört, dass Empathie oder Mitgefühl angeboren sind und wir dies nicht erlernen können. Das stimmt aus meiner Sicht nicht. Klar haben einige Menschen mehr Mitgefühl und andere weniger, jedoch kann man Mitgefühl steigern. Voraussetzung dafür ist allerdings ein ernstes Interesse am Verhalten und dem Denken anderer Menschen. Das Gegenüber merkt sehr schnell, wenn Mitgefühl nur gespielt oder geheuchelt wird. Mitgefühl muss von Herzen kommen.

Folgende Tipps helfen dir zu mehr Mitgefühl zu  kommen:

  • Höre deiner/m Gesprächspartner*in gut zu, wenn sie/er über die Ereignisse oder Gefühle berichtet, die sie/ihn beschäftigen.
  • Zeige ehrliches Interesse und Neugier für das Erzählte. Hake nach, wenn du etwas nicht verstehst.
  • Spiegle die erlebten Emotionen, zeige Verständnis für die Situation. Dein Gegenüber wird sich verstanden fühlen und öffnet sich möglicherweise noch weiter dir gegenüber.
  • Reflektiere dich selber öfters: Was bringt mich auf die Palme? Warum regt es mich auf? Was bedrückt mich? Welche Haltung nehme ich dabei ein? – bin ich ohnmächtig oder trotzig? – bin ich streng oder überfürsorglich?
  • Rede mit verschiedenen Menschen (Alter, Geschlecht, Herkunft, Gesinnung), höre ihnen aufmerksam zu? Versuche ihre Beweggründe zu verstehen. Frage nach, wenn etwas unklar ist.
  • Übernimm ab und an eine beobachtende Position. Frage dich, warum ein Mensch so reagiert, wie er reagiert.

Ich hoffe, ich konnte dir meine Sicht in Bezug auf die Wichtigkeit des Mitgefühls für die bevorstehenden Herausforderungen in der Gesellschaft mit diesem Artikel näher bringen. Ohne ein gesundes Mass an Mitgefühl koppeln wir uns von anderen ab. Es zählt nur noch, was wir selber sind und denken. Wir wollen unseren Willen durchsetzen, verhalten uns trotzig oder belehrend.

Mit dem richtigen Mass an Mitgefühl, kommunizieren wir verständnisvoller und respektvoller mit unseren Mitmenschen. Wir schüren weniger Hass und können aufeinander eingehen. Wir sind offener, toleranter und gelöster im Umgang mit anderen, aber auch mit uns selber. Wir ärgern uns weniger und sind schlussendlich glücklicher und ausgeglichener.

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